P. Gregor: Der schmale Grat zwischen den Fronten im Südsudan

Von Pater Gregor (März 2017)

Der Südsudan steht politisch wie wirtschaftlich am Abgrund. Auch die traditionelle
Weise, sich selbst durch Viehzucht und Ackerbau zu versorgen, gelingt nicht mehr wegen
Vertreibung und Naturkatastrophen, so dass Hundertausende vom Hungertod bedroht sind
und auf diese Weise schon jetzt unzählige Menschen jeden Tag unnötig sterben. Hinzu
kommt die Aggression und Verrohung im Umgang miteinander. Die Erlebnisse in diesem
Bericht beschreiben, wie gefährlich es ist, sich zwischen den Fronten zu bewegen. Die
Kirchen, wie die Comboni Missionare, leben und arbeiten auf allen Seiten des Konflikts (es
sind mehr als nur zwei Konfliktparteien). Wir suchen Versöhnung und Teilhabe aller
Menschen in diesem Land. Das wird aber oft nicht verstanden, weil jede Partei den Spruch
“Wer nicht für uns ist, ist gegen uns” anwendet.

Die Situation ist letztes Jahr besonders für die katholische Kirche schwierig geworden.
Der Verwalter unserer Diözese (wir haben seit 2009 keinen Bischof) war bis vor kurzem eher
auf der Seite der Regierung, weil er mit ansehen musste, wie wilde Nuer-Milizen unseren
Bischofsitz Malakal zerstört haben. Letztes Jahr verübten Regierungssoldaten jedoch ein
Massaker mit über hundert Toten an seinem Volk, den Balanda. Da konnte er sich nicht
mehr halten und predigte eines Sonntags in Juba sehr emotional gegen die Regierung. Das
ganze wurde auch noch live im Radio übertragen, und die Sicherheitskräfte nahmen ihn
gleich nach der Messe fest. Der Präsident (übrigens auch katholisch mit eigenem Sofa in der
ersten Reihe der Kathedrale) gab dem „verlorenen Sohn” in einer Privataudienz die
Möglichkeit, seinen „Fehler” zu widerrufen. Wohlgemerkt, es gibt hier keinen Rechtsstaat,
wo eine Straftat vor Gericht verhandelt werden kann, sondern es geht zu wie zu
Königszeiten, wo der Herrscher ein Gnadenurteil für reuige Untertanen spricht. Seit diesem
Ereignis wird Priestern und Mitarbeitern der katholischen Kirche pauschal vorgehalten,
einseitig die Opposition zu unterstützen.

Im Januar 2017 war ich zur Provinzversammlung der Comboni Missionare in Juba. Weil
seit November der Nil wieder für Schiffe geöffnet ist, hatten wir mehrere Tonnen Bau- und
Schulmaterial eingekauft. Auch das Krankenhaus in Old Fangak hat sich an der Ladung
beteiligt. Die Sachen mussten nun mit Lastern zum Flussufer gebracht werden. Einer dieser
Laster wurde von der Polizei abgefangen. (An jeder Straßenecke stehen Polizisten, die so
viele Fahrzeuge anhalten, bis sie genug Geld für den Tag erpresst haben.) Als sich
herausstellte, dass die Ladung für Old Fangak bestimmt ist (die „Rebellen“!), wurde die
National Security eingeschaltet und der Laster konfisziert. Der arme Fahrer rief unseren
Logistiker an. Dieser wurde bei seiner Ankunft auch festgenommen und rief mich an, ihn mit
offiziellen Papieren da rauszuholen. Es gibt keine Adressen oder Straßennamen in Juba. So
wurde ich von einem Mann abgeholt, der mich einige Kilometer außerhalb der Stadt zu einem
unmarkierten Gelände nahm. Dort wurde ich ebenfalls wegen Kollaboration mit den Rebellen
unter Arrest gestellt. Ich befand mich in einem Raum heiß wie eine Sauna wegen der
Mittagshitze. Für Wasser musste ich bezahlen. (Jemand ging für mich einkaufen, weil das
Gelände kein Trinkwasser hat.)
Der Logistiker und ich wurden in getrennten Räumen ins Kreuzverhör genommen, um
unsere Darstellung zu prüfen, und niemand von außen kannte unseren Ort. Als ich einen Anruf von einem Comboni Pater erhielt, der meinen Aufenthaltsort erfahren wollte, wurde
mir das Handy weggenommen und abgestellt. Ein Mann sagte, dass er mich töten würde,
wenn er das Kommando hätte. Das war keine Drohung, sondern eine Feststellung.
Glücklicherweise hatte er anscheinend nichts zu sagen, und der Kommandeur war mir recht
freundlich gesinnt. Er wollte genau wissen, was ich in Fangak mache und natürlich, was die
„Rebellen“ machen. Er freute sich auch über die Gelegenheit, mit einem Priester zu
sprechen, und wollte ganz genau wissen, wie ein Papst gewählt wird. So erklärte ich die
Funktion von Kardinälen und wie die Wahl abläuft. Den Gebrauch von anonymen
Wahlzetteln fand er faszinierend. Die Szene würde in einen Monty Python Sketch passen.
Der Kommandeur war so interessiert, dass unser Gespräch vergessen ließ, dass ich in Haft
war. Nach fünf Stunden durften wir nach Hause, aber viele Südsudanesen bleiben für lange
verschwunden und werden gefoltert, wenn sie in die Hände des Sicherheitsapparates
gelangen. Natürlich wurde mir und dem Logistiker das Bargeld abgenommen. Das war ein
großer Betrag, weil an dem Tag eigentlich noch andere Ausgaben getätigt werden sollten.

Der letzte Absatz beschreibt das Misstrauen auf Seiten der Regierungsbefürworter. In
Old Fangak ist letztes Jahr folgendes passiert: Am Ende einer Messe werden immer Reden
gehalten. Der Vater eines Schülers bedankte sich in einer Rede für das Engagement der
Comboni Missionare und fügte dann hinzu, dass er nicht glaube, dass Pater Gregor für die
Regierung arbeite. Dieser unscheinbare, an das allgemeine Publikum gerichtete Satz
offenbart folgendes: Es gibt Leute in Old Fangak, die sich meine Kooperation mit dem
Schulministerium nur dadurch erklären können, dass ich für die Regierung spioniere. Wie
sonst würden sie uns am Grundschulexamen teilnehmen lassen? Das ist für mich potentiell
eine gefährlichere Situation, als was mir in Juba passiert ist. Das Problem ist, dass ich ja
nicht beweisen kann, kein Spion zu sein.
Ich habe mich damals beraten und weiß, dass ich nichts zu befürchten habe. Aber eine
kenianische Krankenschwester musste aus einer anderen Ortschaft im Nuer Gebiet
innerhalb weniger Stunden evakuiert werden wegen eines kritischen Facebook-Eintrags
gegen die Opposition. Soldaten waren schon auf dem Weg, um sie festzunehmen –
glücklicherweise zu Fuß, weil es im Sumpfgebiet des Nil keine Straßen gibt -, und das
erlaubte der Organisation einen Charterflug zu buchen. Menschenleben zählen kaum etwas,
und spätestens seit der Vergewaltigung von Hotelgästen (internationalem NGO-Personal)
durch Regierungssoldaten im Juli 2016 ist klar, dass Ausländer keinen Schutzstatus haben.
Weniger bekannt ist, dass eine amerikanische Ordensschwester zu einer anderen Gelegenheit
ebenfalls vergewaltigt worden ist. Und eine tschechische Ordensschwester und zugleich
Ärztin ist letztes Jahr in einem Krankenwagen (!) an einem Checkpoint erschossen worden,
weil der Soldat das Fahrzeug als Bedrohung aufgefasst hat (http://www.steyler-
mission.de/de/news-berichte/nachrichten/2016/Schwester-Veronika-nach-Schussverletzung-
verstorben.php). Aber da wurde geschossen, ohne zu wissen, wer im Wagen saß.

Mein Fall, dass ich gleich zweifach auf der jeweils anderen Seite vermutet werde, ist
symptomatisch für die Lagermentalität, in die auch Außenstehende unfreiwillig eingeordnet
werden. Das ist besonders tragisch für die Kirchen, weil wir ja eine Botschaft verkünden,
die diese Mentalität überwinden will. Solange die Mehrheit der Südsudanesen darin
verharrt, kann ihnen von außen nicht geholfen werden. Keine politische Initiative oder
Reform wird irgendetwas bewirken.
Im Januar fühlte ich mich, wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden, und es
hat mir einige schlaflose Nächte bereitet. Aber das ist paradoxerweise eine Situation, die
eine Verheißung auf Gottes Segen hat. „Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben
und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht…
Wir gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig; wir werden gezüchtigt und doch nicht
getötet; uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und
machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles.“ (2. Korintherbrief 4,8; 6,8-
10) Mit den Worten „reich“ und „alles“ meint der Apostel Paulus die geistlichen Güter der
Erlösung durch Christus und der Versöhnung mit Gott.
Es geschieht durch diese Versöhnung, dass Menschen befreit werden zur Versöhnung miteinander. Daher ist die Versöhnung mit Gott der Kern der christlichen Missionsarbeit (2 Korinther 5,17-20).
Für den Glaubenden sind Konflikte – vom großen Bürgerkrieg bis zum kleinen Ehekrieg –
ein Zeichen, dass der Mensch auf sich allein gestellt verloren ist. Deshalb erzählt Jesus ein
Gleichnis über Gott in der Gestalt eines Hirten, der sein verlorenes Schaf, den Menschen,
sucht, bis er es gefunden hat (eine wunderbare Erzählung für Hirtenvölker wie Nuer und
Dinka). Die rechte Gottesbeziehung ist die Basis, dass der Mensch nach der Bestimmung
leben kann, für die er erschaffen worden ist.
Der Mensch ist nach der Bibel Abbild des Schöpfers. Ehrfurcht vor Gott zeigt sich daher
gerade darin, dass wir sein Abbild in anderen Menschen achten. Deshalb sagt Jesus, dass
das Gebot der Nächstenliebe (ich füge hinzu: Feindesliebe) dem Gebot der Gottesliebe
gleichgestellt ist. Wer sich ernsthaft darauf einlässt, erfährt, dass dies oft menschliche
Kräfte übersteigt. Aber gerade darin wird er im Glauben Gottes Kraft spüren. Ich teile
meine Überzeugung mit den Leuten in Fangak, aber ich schreibe es auch euch, falls jemand
sich in einem menschlich ausweglosen Konflikt befindet.

Dieser Brief soll nicht hoffnungslos enden: Es gibt Südsudanesen, die nicht der Logik des
Krieges folgen. Bei der Abfertigung der Schiffspapiere im Januar sagte mir der Beamte, ein
Dinka, dass er auch gläubig sei und es gut findet, was die Kirche macht. Er informierte mich
auch darüber, dass ich einen Antrag stellen kann, als kirchliche Organisation von den
Steuern für den Transport befreit zu werden. Das hat mich überwältigt, nachdem mir die
National Security so viel Geld geraubt hatte. Man muss wissen, dass in dem wirtschaftlichen
Chaos Gehälter spät oder gar nicht gezahlt werden und Beamte oft nur das erhalten, was sie
an Gebühren einnehmen.
Indem der Mann uns (d.h. auch den „Rebellen“) einen gebührenfreien Transport ermöglichte, hat er auf seinen eigenen Verdienst verzichtet.
Eine andere Begebenheit: Die Neujahrsmesse habe ich in einer Kapelle gefeiert, die an
ein Dinka Gebiet grenzt. Dort gibt es auch Katholiken (ohne Priester), die von unseren Nuer
zum Gebet eingeladen worden sind. Mich hatte niemand informiert, und so wurde ich
überrascht, als plötzlich jemand aufstand und von Nuer auf Dinka übersetzte. Mir kamen
vor Rührung die Tränen. Hier ist der Beginn eines neuen Südsudan, ganz bescheiden und
unscheinbar. Es war ein Taufgottesdienst, in dem neben Kindern auch mehrere Erwachsene getauft worden sind, unter anderem eine Mutter, Jahrgang 1969, zusammen mit ihren 6 Kindern. Taufe bedeutet hier, dass der Stamm bzw. die Ethnie zwar die Herkunft sind, aber nicht mehr die Identität ausmachen. Das ist jedenfalls die Hoffnung, dass Christen unter Druck und in der Krise sich ihrer neuen Identität in Christus bewusst sind und danach handeln.

Dieser Bericht ist für mich ein Tagebuchersatz. Ich hoffe aber auch, dass ihr daraus
Gewinn gezogen habt. Werdet zu Friedensstiftern, dort wo ihr lebt.

Herzliche Grüße und Gottes Segen,
euer Pater Gregor

 

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