Stuttgarter Zeitung, 10 Juli 2012

Vaihingen in den Augen einer Afrikanerin: Kein Kulturschock – aber anders

120710_SZ_Kein Kulturschock

Bernadeta Manisula vor dem Hans-Rehn-Stift. Foto: Annegret Jacobs

Rohr – Es ist heiß. Selbst auf der Rohrer Höhe, einem der am höchsten gelegenen Stadtteile Stuttgarts, regt sich an diesem Mittag kein Lüftchen. Auch Bernadeta Manisula schwitzt. Zwar kommt die 24-Jährige aus Uganda. Aber in vielen Regionen des ostafrikanischen Landes werde es nicht so heiß und so schwül wie an diesem Nachmittag oberhalb des Stuttgarter Talkessels, sagt sie und fächelt sich mit der Hand Luft zu. Deswegen ist die Studentin aus der ugandischen Hauptstadt Kampala froh, dass die nächste Station an diesem Tag sie ins Pflegeheim Hans-Rehn-Stift führt. Dort gibt es eine Klimaanlage.

Zwei Wochen lang in Vaihingen

Zwei Wochen lang ist Bernadeta Manisula, Studentin und Pressereferentin für eine US-Hilfsorganisation, zu Gast in Vaihingen gewesen. Michael Elsässer aus Rohr hatte sie eingeladen, um mit ihr auf Lesetour durch Süddeutschland für sein Buch „Ihr Lachen klingt wie Weinen“ zu gehen. Im Mai ist es herausgekommen. Darin hat der 54-Jährige die Geschichten von Kindersoldaten und anderen Opfern der Rebellenarmee des ugandischen Warlords Joseph Kony gesammelt. Bernadeta Manisula hat er während seiner Recherchen dazu kennengelernt. Sie hat für ihn viele der Interviews geführt, den Kontakt zu den Opfern erst ermöglicht.

Am 30. Juni fand eine Lesung in Vaihingen im Rudi-Häussler-Saal vor rund 200 Zuhörern statt. Außerdem gab es Lesungen in Freiburg, Ellwangen, und verschiedenen Orten in Bayern. Bernadeta ist zum ersten Mal in ihrem Leben in Europa – und findet gar nicht viel dabei. Kulturschock? „Nein, gar nicht“, sagt sie. Sie kenne Deutschland und Europa bereits aus Filmen, hat in der Schule viel über die deutsche Geschichte, die Weltkriege, die Wiedervereinigung gelernt. „Ich sehe hier das, was ich schon kenne“, sagt sie.

„Es ist alles so sauber“

Ein paar Überraschungen gibt es aber doch. „Es ist alles so sauber“, sagt sie und deutet auf die Straße vor dem Pflegeheim. „Nicht nur in den Städten, selbst im kleinsten Dorf sind die Straßen geteert, und es gibt Bürgersteige“, sagt sie. Alles ist geordnet, die Züge kommen pünktlich.

Für die Nächte, in der sie nicht mit Elsässer auf Lesetour ist, ist sie in Dürrlewang, im Café Geiler, untergebracht. Dort hat sie einen weiteren Unterschied zu Uganda ausgemacht: die Essgewohnheiten. Immerzu werde in Deutschland Kaffee getrunken. Und so viel Kuchen gegessen. Morgens staunt sie immer über die Auswahl in der Theke. „Alles mit Kirschen und Beeren.“ Lecker, aber ungewohnt. Als Bernadeta zum ersten Mal rote Johannisbeeren probiert, durchzuckt ein Schauder ihren Körper. „Lecker“, sagt sie, „aber sehr sauer.“

Ein Pflegeheim hat Bernadeta noch nie gesehen.

Auch ein Pflegeheim hat Bernadeta noch nicht gesehen. Mit dem Aufzug geht es in die dritte Etage des Hans-Rehn-Stiftes. In Uganda werden die Menschen nicht so alt, die Lebenserwartung liegt bei etwas mehr als 51 Jahren. „Ich habe davon gehört, dass alte Menschen wie Kinder werden“, sagt Bernadeta. Elsässer hatte diese Etappe durch Vaihingen ausgesucht, weil seine eigene Mutter die letzte Zeit ihres Lebens dort verbracht hat. Es ist gerade Kaffeezeit. Die Senioren, die können, sitzen in dem großen Aufenthaltsraum. Viel gesprochen wird nicht. Bernadeta fragt: „Wie alt sind die Leute, die hier leben?“ Die meisten seien älter als 75 Jahre und in der Regel so pflegebedürftig, dass sie nicht mehr alleine leben können, antwortet ihr Jochen Ackermann, Pflegedienstleiter im Haus.

In diesem Moment wird deutlich: Filme und Unterricht können auf viel vorbereiten. Aber das Konzept eines Pflegeheims kennt Bernadeta nicht. „Müssen alle Menschen, die älter als 75 Jahre sind, hier leben“, fragt Bernadeta weiter. „Wer kommt, um sich mit ihnen zu unterhalten, ihnen die Haare zu kämmen?“, fragt sie. Ackermann erzählt ihr von dem umfangreichen Freizeitprogramm, dass das Heim seinen Bewohnern anbietet: Singkreise, Gymnastik, Erzählrunden, Ausflüge und Kino. Ackermann sagt aber auch, dass nur wenige Senioren dies wahrnehmen. „Sie wollen lieber ihren gewohnten Tagesablauf.“ Bernadeta nickt und fragt weiter: „Kommen ihre Verwandten sie besuchen?“ Nun, sagt Ackermann, das komme darauf an, ob es noch Verwandte gibt und wo sie wohnen. „Also bekommen viele keinen Besuch“, fasst sie zusammen.

„In Uganda wäre das nicht möglich“

Später wird Bernadeta sagen: „In Uganda wäre das nicht möglich.“ Nicht möglich, weil sich niemand ein Altenheim leisten könne. Nicht möglich, weil es einfach unmöglich ist, seine Eltern abzugeben, sich im Alter nicht mehr um sie zu kümmern. „Es ist sind deine Eltern, egal wie beschäftigt du bist“, sagt Bernadeta. Wenn es gar nicht anders gehe, dann suche man jemanden, der die Eltern betreuen kann. Aber niemals jemand Fremdes. „Und du gehst so oft dahin, wie es möglich ist.“

In Deutschland funktioniere alles – leben wolle sie aber nicht hier, sagt Bernadeta. „Die Menschen sorgen sich um ihr Haus, um ihre Reisen, aber sie kennen ihre Nachbarn nicht.“ Etwas anderes hingegen gefällt ihr gut in Deutschland. Sie schwärmt von dem herzlichen Umgang Elsässers mit seinen Kindern und seiner Frau: Dass ein Mann sie nach ihrer Meinung befrage und nicht einfach anordne, was zu tun ist – dies sei in Uganda nicht die Regel.

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